Dörfliche Kultur
In einer geselligen Runde gibt es immer verschiedene Meinungen zu dem Alltagsgeschehen oder bei der Kommentierung der unterschiedlichen Situationen in der weiten Welt. Der Dörfler verhält sich dabei taktisch sehr geschickt und vornehm zurück. Wer unterstellt, er hätte ohnehin nichts zu sagen, verkennt solche Situationen. Das Denken wird zunächst einmal anderen überlassen, weil eine Überanstrengung vermieden werden soll. Die Aufgabe, alles Geschehene in der Gegenwart geistig zu beleuchten und für die Zukunft noch vorher zu sehen, ist sehr schwierig. Diesen hochkomplexen Prozess unter seinen geselligen Mitdörflern, erfordert die hohe Konzentrationsfähigkeit eines ganzen Mannskerls, oder Frauweib.
Bei Problemen wird der seinen Mitmenschen selten direkt ansprechen, sondern diese über einen
Dritten ihm zutragen lassen; man scheut in Verantwortung genommen zu werden, auch könnte bei Direktansprache die Mitdörfler ihn in seiner Position „herabstufen“.
Je nach momentaner geistiger Aufnahmefähigkeit wird versucht, ganze Sachverhalte zu sortieren und scheibchenweise rhetorisch gut über zu bringen. Wer dieses Kunststück fertig bringt, ein großes Gedankenwerk einem weniger intellektuellen Menschen so zu servieren, dass er zu jeder Zeit dem auch noch geistig folgen kann, erfährt höchste Anerkennung bei den Gralshütern für die örtliche Politik. Wer jedoch glaubt, in einer solchen auserwählten Runde angeben zu können, dass sich die Balken biegen, wird mindestens hinterher auf dem Nachhauseweg verspottet. Denn Wichtigtuer, haben angeblich nie etwas Wichtiges zu sagen. Auf dem Nachhauseweg kann man im vertrauten Kreis die Nachbereitung der Sitzung noch vornehmen. Die Programmpunkte für die nächste werden dabei gleichzeitig festgelegt, damit im kommunalen Geschehen nichts verloren geht.
In seiner Solidargemeinschaft kommt man immer gleich zur Sache. Man trifft sich zu einem ungeschriebenen aber einzuhaltenden Zeitpunkt an einem bestimmten Wochentag. Dort herrschen die Emotionen vor. Jeder will etwas zu sagen haben und zu Wort kommen. Notfalls fällt man sich gegenseitig ins Wort. Sieger ist meistens der mit der lautesten Stimme. Die inhaltliche Qualität der Beiträge bleibt oft auf der Strecke, wichtiger ist, wenn man die Lacher auf seiner Seite hat. Sachliche Beiträge mit umfangreichen hochgeistigen Erklärungen können dabei nur hinderlich sein. Denn es muss eine klare, griffige und simple Botschaft her, die aber oft nur mühsam erarbeitet werden kann, bei der Kompliziertheit der Fälle. Jeder einfache Mensch muss schnell alles begreifen können. Schlagworte oder das Hervorkramen eines alten Sprichwortes genügen manchmal schon. Eine politische Formel muss im Laufe des Abends, in einer Nachtsitzung also, unbedingt gefunden werden. Hier braucht man nicht die Uhr anzuhalten. Diplomatie wäre hier unangebracht. Diese würde den einen oder anderen zwar vor Angriffen schützen, aber man muss halt schnell und zielsicher zur Sache kommen, ohne jeden rhetorischen Schnörkel. Um sich innerhalb der Gruppe vor Grobheiten zu schützen, wird aber schon im Vorfeld eine genaue Auswahl getroffen. Opponenten oder andere Störenfriede kann man dabei nicht gebrauchen.
Man steht unter dem Zwang, als Solidargemeinschaft zusammenhalten zu müssen. Als Einzelperson meidet man die sachliche Argumentation. Darauf will sich keiner einlassen und verweist lieber auf andere. Mühsames vorheriges Recherchieren und die komische Regel, dass man erst das Gehirn einschalten sollte, bevor man den Mund öffnet, überlässt man anderen Geistesakrobaten. Seine dörflichen Neider und Stänkerer, lässt man spüren, dass sie in einer deutlichen Minderheit sind.
Diese Glosse soll denen einen Spiegel vorhalten, die meinen, sie könnten ihre eigene Welt alleine aus der Froschperspektive beurteilen und dabei noch gesellschaftliche und gesetzliche Zustände missachten. Eine Mehrheit für seine Meinung zu finden, kann im vertrauten Kreis leicht sein. Eine Begründung für eine allgemeine gut fundierte Beurteilung ist damit nicht unbedingt gefunden worden. Man kann wider besseres Wissen handeln, Qualität erlangt man nicht immer auf demokratischem Weg. Die emotionale Grundhaltung, dass "nicht sein kann, was nicht sein darf", ist nicht nur unwissenschaftlich, sondern verhindert auch möglichen Fortschritt. An einer sachlichen Auseinandersetzung kommt keiner vorbei, der eine gute zukunftsfähige Entscheidung sucht und wünscht. - Nur Wissen bleibt Macht, Besserwissen nicht. Sehr schnell wird bei unbedachtem oberflächlichem Argumentieren vergessen, dass die innerdörfliche Harmonie gepflegt werden muss. Viele kennen sogar Fälle, die sich über Generationen vererbt haben und man aus einem nichtigen Grund sich nicht mehr im Vorbeigehen ansieht. Emotionen sind etwas für die Seele. Für Verantwortung benötigt man aber Geist mit Sachverstand. Jeder ist Teil eines Ganzen und lebt in ihm. Man sollte die Vorteile erkennen und Verantwortung dafür tragen. Andersdenkende haben für ihre Meinung auch eine Begründung und die sollte bei einem Urteil berücksichtigt werden.